Blog
01-Ein bisschen Frei
Vor meinen Augen, ca. 1 km entfernt, türmt die Skyline von Toronto in den blauen mit Wolken bedeckten Himmel. Es scheint, als würden die einzelnen Gebäude um ihre Höhe und Präsenz wetteifern. Auf dem Lake Ontario, welcher mich von dem Festland trennt, stecken Schwäne abwechselnd ihren Kopf in den unendlich weitreichenden See.
Möwen kreischen.
Wellen schlagen an das Ufer.
Es ist windig, jedoch aufgrund meiner dicken, grünen Daunenjacke nicht kalt. Weit und breit ist niemand zu sehen. Mit einem schwarzen Fineliner versuche ich meinen wilden Gedankenfluss in dem kleinen rosa Notizbuch mit der Aufschrift „New Adventures“ festzuhalten.
Am Ufer stehen vier bunte Stühle. Ein pinker, ein gelber, ein grüner und ein blauer. Ich befinde mich auf dem blauen Stuhl. Rechts neben mir, auf der schmalen Armlehne, eine Bananenschale. Die letzten Überreste meines Verzehrs.
Es ist auffallend laut. Vermutlich liegt das an den Flugzeugen, welche im Minutentakt das Festland des Flughafen „Porter Airlines“ erreichen.
Boote legen ab.
Der Park, die Blätter, die Bäume. All dies scheint so familiär. Gleich der Natur Zuhause.
Ich würde meine augenblickliche Erfahrung gerne mit jemandem teilen. Andererseits scheint ein Teil von mir das Alleinsein zu bevorzugen.
Verwirrend, surreal, frei.
Primär frei.
Ist es nicht das wonach wir alle streben? Freiheit? Unabhängigkeit? Und gleichzeitig versuchen wir das Alleinsein zu vermeiden. Eigene Entscheidungen zu treffen. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich. Bin ich einsam?
Nein nur frei.
02-Fragen
Heute ist Freitag, der 20.10.2023. Es regnet, ich sitze in einem liebevoll eingerichtetem Café, trinke das erste mal einen Vanilla Latte und höre klassische Klaviermusik. „The Carnival of the Animals, R.125:XIII.The Swan“ aus dem Album „Klassik für Kinder“. Ein Augenblick, wie in einer Filmszene. Mein Platz befindet sich an einem großen, zur Straße gerichteten Fenster. Auf meinem Hochstuhl beobachte ich das Treiben auf der anderen Seite der Glasfront. Menschen laufen beschäftigt und in Gedanken versunken an dem kleinen Café vorbei. Auf der anderen Straßenseite steht ein kleines Häuschen.
Symmetrischer Aufbau, weiße Veranda, windige Fenster, spitze Dachgiebel.
Vor einer halben Stunde besuchte ich einen Buchladen und dort kaufte ich mir mein erstes, eigenes, englisches Buch mit dem Titel „Where do I belong?“ für 10.44$. Der Buchtitel scheint äußerst passend in meiner aktuellen Situation, denn in letzter Zeit stelle ich mir recht häufig die Frage „Where do I belong“?“, gefolgt von „What do I want?“ und schließlich gelange ich an den Punkt „Wtf am I doing here?“.
Wie möchte ich mein Leben gestalten? Was mache ich nach dem Auslandsjahr in Kanada? Und vor allem was möchte ich erreichen? Was ist mein Ziel? Habe ich ein Ziel?
WAS WILL ICH?
So viele Fragen ohne eine dazugehörige Antwort.
Ist das nicht normal? Ist es nicht das, was das sogenannte „Leben“ ausmacht?
Auch auf diese Fragen habe ich keine Antworten.
Ich fühle mich ein bisschen verloren.
Ein bisschen jung und zugleich auch ein bisschen alt. Ein bisschen selbstbewusst aber auch ein bisschen unsicher. Ein bisschen selbstständig, jedoch ebenso abhängig. Ich fühle mich geliebt, frei, lebendig aber eben auch ein bisschen vergessen, gebunden und starr.
Fühlt sich so Entwicklung an?
Werde ich gerade erwachsen oder bin ich doch immer noch das kleine Kind?
So unglaublich viele Fragen. Wer kennt die Antworten? Kennt überhaupt jemand die Antworten auf all diese gottverdammten Fragen?
Das einzige, dessen ich mir bewusst bin ist, dass heute Freitag der 20.10.2023 ist, es regnet, ich in einem liebevoll eingerichtetem Café sitze und meinen ersten Vanilla Latte ausgetrunken habe.
Was wird noch alles kommen?
Vielleicht ist der beste Weg einfach abzuwarten, sich treiben zu lassen und dem Leben mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen dabei zuzusehen, wie es Stück für Stück alle Fragen beantwortet.
03-Schneegestöber
Schnee. Frostig. Still.
Milliarden und noch viele weitere kleine weiße Flocken taumeln senkrecht auf den gefroren, von braunen Blättern bedeckten Boden. Sträucher strecken ihre kahlen und nackten Äste in den Himmel. Langsam aber sicher vergeht der Schmuck der bunten Vielfalt und eine weiße, wohlige Decke schmiegt sich um die so leblos wirkenden Bäume.
Jede so gleich scheinende Flocke, jedoch gleichzeitig ein seltenes Individuum, trägt dazu bei, die Visage der Natur Stück für Stück ein wenig mehr zu bedecken.
Ruhe einkehren zu lassen.
Zu atmen.
Ein kleiner mooriger See nimmt die Flocken zaghaft auf.
Lässt sie zergehen, verschwinden.
Das Wasser wartet geduldig, bis auch dieses schlussendlich von dem Frost erfasst wird. Ein schleichender Prozess, dem nichts und niemand zu entkommen vermag.
Der Himmel ist weiß. Eher grau. Er verschlingt jegliches Licht.
Die Geräusche der Straße werden bis in das kleine Waldstück getragen. So nah, doch so unbedeutend.
Die Flocken fallen schneller.
Als haben sie es eilig der Welt nun endlich Ruhe zu schenken.
04-Ehrlich
Würde mich jetzt im Moment eine Person fragen, wie es läuft auf meiner Reise oder wie es mir geht, könnte ich auf beide Fragen die selbe Antwort geben:
Beschissen
Ich habe keine Lust mehr. Ich will nicht mehr. Ich hasse alles hier gerade.
Das sind die Gedanken, die mir seit knapp einer Woche im Kopf umherrschwirren. Ich versuche mich selbst krampfhaft bei Laune zu halten, indem ich mir in endlosschleife einrede, dass alles wieder besser wird. Immer und immer wieder wiederhole ich die selben Worte. Sie selbst zu glauben fällt mir schwer.
Seit einiger Zeit werde ich nun mit unbekannten Problemen konfrontiert, mit welchen ich nicht umzugehen weiß. Alles scheint extra schwierig zu sein. Vergleichbar mit einem Spiel, welches nach jedem kleinen Sieg mehr an Komplexität gewinnt.
Ich verlaufe mich in der Stadt.
Ich bestehe wichtige Eignungstests nicht.
Ich schaffe es nicht mehr mich mit öffentlichen Verkehrsmittel von A nach B zu bewegen.
Ich finde keine Arbeitsstelle.
Ich habe Kreislaufprobleme.
Und heute die Nachricht, die das Fass zum Überlaufen brachte.
Ich muss mein Apartment verlassen.
Zeitnah.
Neue Fragen und Sorgen nisten sich in meinem Kopf ein, wie ein ungewünschter Gast.
Ich brauche eine neue Unterkunft.
Teuer, kompliziert, anders.
Es ist Zeit meinen Plan umzuschmeißen, obwohl ich doch gerade erst dabei bin mich in meinem neuen Umfeld einzuleben.
Selbstverständlich möchte ich es gerade nicht wahrhaben, jedoch bin ich mir bewusst, dass genau diese unvorhersehbaren Situationen Faktoren für persönliches Wachstum sind. Situationen aus denen wir lernen. Situationen in denen sich eine Türe schließt und eine andere öffnet.
Tief in meinem Inneren weiß ich, dass alles so kommen wird wie es soll und dass mein Weg auch wieder bergauf führt.
Doch im Moment möchte ich nichts davon wissen.
Deshalb habe ich mich dazu entschlossen meine Gedanken festhalten, um später darauf zurückzublicken und sagen zu können:
Die Situation war zwar beschissen. Aber nicht für immer.
05-drei Worte
Müsste ich Montreal nach drei Tagen Aufenthalt in drei Worten beschreiben, wären diese: Nostalgie, Vielfalt und Kälte.
Nostalgisch bedingt durch meine neue Unterkunft. Eine betagte Residenz einer Dame namens Flora, welche ich bisher nur durch Erzählungen und ein paar wenigen E-Mails kennenlernen durfte. Das riesige, alte Haus mit einem Pianoraum, einem Esszimmer, einer gelbgestrichenen Küche mit einem weißen Buffet Schrank, einem Kellerapartment, zwei Badezimmern und sieben Räumen, bewohnen sechs Studenten unterschiedlichster Herkunft und Hautfarbe, sowie ich selbst. Sauberkeit existiert soweit die vergangenen Jahre das zulassen. Die verschiedenen Gemälde (Portraits, sowie Landschaftsmalerein) und der knarzende Holzboden verleihen dem spitzwinkligem Gebäude so viel Charme, dass ich mich trotz der unbekannten Umgebung sofort heimisch fühle. Mein kleines Zimmer besteht aus einem kleinen, begehbaren Kleiderschrank, einem Bett mit drei verschieden-farbigen Decken, einem kleinen Nachttisch mit einer Stehlampe, zwei verschmutzen und vermutlich seit Jahren ungeöffneten Fenstern, einem Schreibtisch, sowie zwei Kommoden mit ausreichend Platz für meine Bekleidung. Zwei meiner Mitbewohner hießen mich vor drei Tagen mit ausgebreiteten Armen und einem freundlichen Lächeln auf den Lippen willkommen.
Die sich im Osten von Kanada befindende Stadt als vielfältig zu beschreiben, lässt sich auf mehrere Faktoren zurückführen.
Einerseits sind es die Menschen. Das Spektrum reicht von jungen, dynamischen Studenten über beschäftigt wirkende Geschäftsleute bis hin zu alten, gebrechlichen Obdachlosen. Andererseits lässt sich durch die Diversität der Personen zugleich eine große Bandbreite an Kleidung, Kunst und Kulinarik feststellen. Italienische Restaurants, Chinatown, jüdische Schulen. Kanada als wahrhaftiger “Melting pot”, welcher mich jede Sekunde mehr fasziniert und in seinen Bann zieht.
Zuletzt kalt. Eine große Erläuterung scheint unnötig, aufgrund dessen, dass ich mich zur Winterzeit im nördlichen Breitengrad befinde. Doch selbst die Minusgrade scheinen der Stadt ihr gewisses Extra zu verleihen. Vielleicht ist es genau das, was alle Menschen hier verbindet.
Heute ist Mittwoch und bisher habe ich mir das “Alte Montreal”, den Park Mont-Royal mit seinen Aussichtspunkten und verschiedenen Wintersportlern, sowie das Museum of fine Arts angesehen.
Gerade Kunst spielt in Montreal scheinbar eine große Rolle und ich bin immer noch ein wenig berührt Giacometti, Picasso, Miró und weitere Werke verschiedener Künstler hautnah gesehen zu haben. Schon seit vielen Jahren wünsche ich mir ein Kunstliebhaber zu sein, doch bisher fehlte mir jeglicher Bezug. Langsam lerne ich, für mich fasziniernde Kunst von unbedeutenden Werken zu differenzieren, Vorlieben zu entwickeln und selbst Künstler anhand des zu ihnen gehörenden Kunstwerk zu erkennen.
Ich habe nun den letzten Schluck meines bereits lauwarmen Kaffees ausgetrunken und werde mir weiterhin die nostalgische, vielfältige und kalte Stadt mit all ihren Fasetten ansehen.
06-Unbekannter
Es ist ein milder Sonntag Abend in Québec, an welchem ich mich dazu entscheide einen kleinen Spaziergang durch die europäisch angehauchte Stadt zu unternehmen. Genüsslich rauche ich meine Zigarette, welche die heimisch riechende Luft durch den herben Geschmack meines Tabaks ein wenig gräulich verfärbt. Der Gedanke eines kleinen Gläschen Rotwein setzt sich in meinen Kopf wie ein junger Vogel in ein wohliges Nest. Ohne jeglichen Orientierungsinn steuere ich auf eine kleine Taverne mit rotem Licht und Musik aus Jahren weit vor meiner Geburt an. Trotz dessen sind mir die Klänge aus den großen Musikboxen familiär.
Schlussendlich nehme ich all meinen Mut zusammen und betrete die kleine Bar durch eine alte, holzerne Tür. An den zwei großen Bildschirmen, welche hinter der Bartheke angebracht sind ist ein Footballspiel zu sehen. “Free bird” von Lynyrd Skynyrd untermalt das Duell der zwei Mannschaften. Rote Uniformierung gegen blaue sind die einzigen Merkmale welche ich als unwissender Zuschauer herauszulesen vermag.
Bevor ich mich für den Sitz auf einem blauen Barhocker an der Theke entscheiden kann, gebe ich meinen Wunsch nach einen Glas Wein ab. Rot oder Weiß werde ich in dem gebrochen französisch-englischen Akzent gefragt. Das erste Mal in meinem Leben entscheide ich mich für einen schweren Rotwein anstelle eines leichen, fruchtigen Weißweins. Kurz nach dem ich meinen Wunsch geäußert habe schenkt der Barkeeper, welcher das Tattoo einer Rose am Ellbogen trägt, schließlich einen weißen Wein ein. Ein Missverständnis ausgelöst durch die kleine Sprachbarriere die uns zwei voneinander unterscheidet. Schon nach wenigen Minuten gesellt sich ein weitere Gast, zwei Stühle von mir entfernt, dazu. Ein zweiter Unbekannter betritt die Taverne und setzt sich ebenfalls an die Theke. Aufgrund dessen, dass beide Personen ohne Begleitung an diesem unbedeutsamen Sonntag Abend aufkreuzen, wird mir das Gefühl von Unbehagen ein wenig genommen.
Langsam aber sicher fließt der golden schimmernde Wein in meinen Magen und somit auch durch meine Venen bis hin in mein Gehirn.
Es ist mir nicht möglich zu vernehmen, ob es sich um einen exquisiten oder preiswertigen Wein handelt, dennoch schmeckt er meiner Zunge. Alle drei Personen an der Bartheke inklusive mir starren in ihr Smartphone. Obwohl ich es für unästhetisch empfinde meine Gedanken mit Hilfe meines Handys festzuhalten, gibt es gerade keine andere Möglichkeit. Das Verlangen die Situation in Worte zu fassen ist schlichtweg zu groß. Die französische Sprache verstärkt das Gefühl von Fremdheit in dem Land, welches ich nun seit vier Monaten als meine vorrübergehende Heimat betitel. Das lautstarke Gegröhle des Ecktisches lässt die Atmosphäre belebt wirken, obwohl sich nur wenige Leute in der Bar befinden. Der Spielstand beträgt nun 24 zu 34 für das rote Team. Langsam aber sicher beginne ich mir eine weitere Zigarette zu drehen. Die Frage nach einem zweiten Glas schwirrt in meinem Kopf, wie eine Hummel im lauwarmen Frühlingswind. Ich entscheide mich dafür es bei einem zu belassen. Verkrampft versuche ich weiterhin das Bild des seriösen Unbekannten zu verkörpern an diesem milden Sonntag Abend in Québec.
07-Momente
Seit mehreren Tagen gefesselt von dem Gefühl meine Gedanken festhalten zu müssen, sitze ich auf einem von der Natur organisch geformten Baumstamm, mit dem Blick zum Pazifik gerichtet. Lautstarke kanadische Männerstimmen unterbrechen meinen Gedankenfluss. Hebt man den Kopf ein wenig an und dreht ihn leicht nach links, erkennt man die hunderte Kilometer entfernten Rocky Mountains, welche majestätisch mit ihren schneebedeckten Spitzen in den blau-rosa gefärbten Himmel ragen. Ruhig doch zugleich so lebendig sehen sie der Sonne beim langsamen verschwinden zu. Wissend, dass diese morgen erneut aufgeht.
Sie kennen diesen immerwährenden Kreislauf nur zu gut.
Es ist ein lauwarmer Juniabend, an welchem ich den ans Ufer schlagenden Wellen lausche und meine nackten Füße in den weichen, jedoch kühlen Sand stecke. Nur wenige Meter entfernt ragt eine kleine, mit letzen Sonnenstrahlen bedeckte Insel aus dem salzigen Wasser. Das schon fast surreale wirkende Panorama wird von treibenden Segelbooten des kleinen Hafens der Stadt verziert. Beinahe scheint die Situation vollkommen zu sein. Jedoch fehlt etwas. Mir ist nicht möglich zu beschreiben um welches gewisses Etwas es sich handelt. Das einzige, wessen ich mir bewusst bin, ist es fällt mir schwer den Moment zu genießen.
Ihn so richtig auszukosten.
Der Wind streift durch meine Haarsträhnen und streichelt mir mit seinen kühlen Fingern über die Wangen. Möwen kreischen und gleiten mit ihren weit ausgebreiteten Flügeln über die offene See. Der Horizont verfärbt sich zunehmend rosa bis schlussendlich die hereinbrechende Nacht jegliche Farben verschluckt. Ein Schwarm Gänse treibt auf dem Salzwasser. Hin und wieder stecken sie ihren langen Hals samt schwarz-weiß gefärbten Kopf in das Wasser in der Hoffnung auf etwas essbares zu stoßen.
Die kühler werdende Brise ermöglicht es mir in dem Moment anzukommen.
Durch das leichte frösteln gelingt es mir diesen bittersüßen Juniabend als Erlebnis und nicht als Bild festzuhalten.
Vielleicht geht es nicht immer nur darum, jeden Moment zu genießen.
Vielleicht reicht es auch ab und an, sich des Moments bewusst zu werden und ihn zu spüren.
Der noch eben rosige Horizont erscheint nun in einem dunkler werdendem Magenta. Die Schneespitzen des mir unbekannten Berges sind nun noch deutlicher zu erkennen.
Ich bin dankbar den Moment nicht primär genießen sondern vielmehr erleben zu dürfen.